3. Strukturelle Besonderheiten des Romans "Stiller" und die Haltung des Erzaehlers im Roman
Literatur entsteht immer in einer "Partnerbeziehung" zwischen Autor und Leser, weshalb der jeweilige Text in jedem Leser neu entstehen soll.
Frisch gibt keine fertigen Antworten und macht deshalb auf das Problem des Offensichtlichen aufmerksam: "...alles sagen bedeutet ein Entfernen". Das Offene in der Reproduzierbarkeit beim Konsumieren eines Textes muß gewaehrleistet bleiben, sonst bleibt die Gefahr, daß man das "Geheimnis zerschlaegt". Die schriftstellerische Form sollte deshalb eine "stofflose Oberflaeche" bleiben, die es letztlich nur fuer den Geist geben kann.
In seinem Aufsatz "Zwischen Autor und Text" betont Umberto Eco unter anderem, dass der Autor zwar der Urheber des Textes ist, aber der Text ist nach seiner Entstehung autonom, so dass es Unterschiede zwischen der Absicht des Autors und der Textintention geben kann. Ueber sich selbst als Autor sagt Eco: "Das Geschriebene hat sich von mir abgeloest und fuehrt ein Eigenleben." (Eco 1992: 91). Mit dieser Behauptung verweisst der Wissenschaftler auf den Aspekt der Offenheit, die das literarische Werk hinsichtlich der Moeglichkeiten der Entwicklung seiner Handlung aufweisst.
Das trifft auch die Autorenposition von Max Frisch. Ein Buch ist fuer ihn nur dann lesenswert, wenn es ausreichend Platz fuer den Reichtum der eigenen Gedanken laeßt. Dieser Gedanke ist verknuepft mit Frischs Abneigung gegen die vollendeten Formen in der Literatur bzw. mit seinem eigenen Weg der Skizzen, Tagebuecher, Berichte. In einer skizzenhaften, unvollendeten Form eines literarischen Textes ist die Gefahr, daß der Autor dem Leser die eigene Reproduktion durch allzu offensichtliche Vollendung vorenthaelt, und ihm dadurch sein eigenes Bildnis aufzwingt, am geringsten. Die Skizze soll nach Frisch nur die Richtung aufzeigen, nicht aber das Ende.
Die von Frisch im "Stiller" gewaehlte Form des Erzaehlens bewirkt, dass der Leser einen sehr eingeschraenkten Blickwinkel hat. Daher muss er sich automatisch mehr Gedanken machen, um von der ersten Seite des Buches an den unbekannten Faden zu spinnen und Verbindungen zwischen den Erlebnissen Stillers zu knuepfen. Die knappe Information, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt Leerstellen, die er mit eigenen Assoziationen, Theorien und Vermutungen fuellt, welche jedoch auch zerstoert werden und zu neuen Ueberlegungen veranlassen. Durch die gewaehlte Romanform wird der Leser aktiv, er muss sich permanent mit dem wechselhaften Erzaehlvorgang auseinandersetzen. Die multiperspektivische Darstellung der Personen und Charaktere fuehrt zu vielseitigen Moeglichkeiten der Interpretation. Der Leser muss sich sein eigenes Bild machen, in dem er sich kritisch und distanziert mit dem Erzaehler und dessen Eigenarten auseinandersetzt.
Die Offenheit der Struktur des Romans macht den modernen Roman, so wie ihn Max Frisch entstehen laesst, ueberhaupt moeglich. Das Losgeloestsein von einer konventionellen Romanform laesst den Leser unvoreingenommen dem Werk entgegentreten und in eine neuartige Moeglichkeit des Rezeptionsvorgangs eintauchen.
Gerade durch diese Einstellung des Autors zu seinen Werken sind in bedeutendem Ausmass einige Besonderheiten der Architektonik des Romans zu erklaeren, solche wie Erzaehlhaltung, Aufbau und Tagebuchform, Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit.
3.1 Aufbau des Romans
Die Form dieses Romans, seine Struktur und seine Erzaehlperspektive sind haeufig bewundert worden, so von Friedrich Duerrenmatt in seinem "Fragment einer Kritik"und von Walter Jens. Eine genaue Untersuchung hat Karlheinz Braun vorgenommen.
Ich möchte zunaechst den ausseren Aufbau des Romans betrachten. Das Buch besteht aus zwei ungleichen Teilen, deren erster, weitaus umfangreicherer, Stillers Aufzeichnungen im Gefangnis umfasst, waehrend der zweite das Nachwort des Staatsanwalts enthaelt. Die Aufzeichnungen im Gefangnis sind wiederum in sieben Hefte gegliedert, deren Umfang im Durchschnitt etwa dem Nachwort des Staatsanwalts entspricht.
Die sieben Hefte des ersten Teils scheinen auf den ersten Blick mit den verschiedensten Elementen gefuellt zu sein: Lange Rueckblenden stehen neben Gegenwartserlebnissen im Gefaengnis und an den Kautionsnachmittagen, die Knobel erzaehlten Abenteuer neben den parabolischen Geschichten, Gespraeche mit Besuchern, Verteidiger und Staatsanwalt neben Traeumen und Reflexionen des Tagebuchschreibers. Eine genauere Analyse zeigt aber, wie kunstvoll diese scheinbar zufaellig nebeneinander stehenden Teile zusammengefuegt, neben- und gegeneinander montiert sind, so dass sie sich gegenseitig ergaenzen und spiegeln.
Sie folgen aufeinander nach folgendem Prinzip: Die in Ichform gehaltenen Erlebnisse des Haeftlings White wechseln alternierend mit dem, was er nach Erzaehlungen anderer (Julikas, Rolfs und Sibylles) zu protokollieren vorgibt. So fuellt die Darstellung der Ehe Stillers und Julikas das zweite umfangreichste Heft der Aufzeichnungen, die Ehe zwischen Rolf und Sibylle, in der Stiller ja als Sibylles Liebhaber aufgetaucht ist, das vierte, die Liebesgeschichte zwischen Sibylle und Stiller das sechste Heft.
Diese drei Hefte sind also fast ausschliesslich der Vergangenheit gewidmet, sie enthalten die Stiller-Handlung. Hefte 1,3 und 5 dagegen geben die Erlebnisse und Gedanken Whites im Gefangnis und in Amerika wieder; diese Hefte stellen die White-Handlung dar. Die Identitaetsspaltung zwischen White und Stiller findet in dieser Struktur ihre genaue Entsprechung.
Eine Sonderstellung nimmt das siebente Heft ein: Der Tagebuchschreiber weigert sich zwar noch immer Stiller zu sein, berichtet aber andererseits zum ersten Male von Stillers Erlebnissen in der Ichform. (vgl. Frisch 1992: 334) Am Ende des siebenten Buches sind mit dem Urteilsspruch White und Stiller identisch geworden, beide Handlungsstraenge sind ineinander geflossen. Es ist also auch formal konsequent, dass hier die Tagebuchform aufhoert und ein neuer Erzaehler zu Worte kommt.
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