2.3 Traeume

 

Der Roman "Stiller" ist, wie Frisch einmal selbst formuliert hat, "das Tagebuch eines Gefangenen, der sich selbst entfliehen will" (Bienek 1969: 24) Aber mit Flucht ist nicht nur die Flucht in den Raum gemeint, sondern eine Flucht vor sich selbst.

Diesen Gedanken wiederspiegeln zwei Traeume von Stiller, die im Rahmen dieser Behauptung analysiert werden. Der erste ist der sogenannte "Traum von Militaer". Diesen Traum verursacht eine Fahrt in ein Zeughaus, "um die soldatische Ausruestung des Verschollenen zu besichtigen" (Frisch 1992: 152)

Im Traum werden vom Tagebuchschreiber die Ereignisse der vergangenen Woche verarbeitet und so kommen sie dann zum Ausdruck: "Getraeumt: ich trage den Waffenrock von Stiller, dazu Helm und Gewehr." (Frisch 1992: 174).

Es war tatsaechlich der Fall waehrend des Besuches, dass White gezwungen war die Militaerausruestung des Verschollenen anzuziehen: "Ich komme nicht zu Wort. Auch den Waffenrock ihres Verschollenen habe ich anzuziehen" (Frisch 1992: 154)

"[…] ich sollte meine Unterschrift geben, um den Empfang eines Gewehres und der neuen Marschschuhe zu bestaetigen." (Frisch 1992: 155)

Nach Freuds These: "Durch den Traum koennen wir manches wissen, was wir uns weigern, wach zu wissen." (Freud 1945: 66) koennen wir behaupten, dass jeder Traum seinen Sinn hat. Er sieht in dem Traum einen Vermittler zwischen dem Unterbewusstsein und dem Bewusstsein. Der Mensch aeußert nach Freud in jedem Traum seinen innersten geheimen Willen, er sieht den Traum als "Hueter des Schlafes".

Uns auf den Freudschen Gedanken stuetzend, koennen wir behaupten, dass das ausschlaggebende in diesem Traum, in dieser Wirklichkeitsbewaeltigung die Tatsache ist, die Stiller spaeter in seinen Aufzeichnungen protokolliert.

"Es ist komisch, nicht einmal im Traum fuehle ich mich als Mitrailleur Stiller" (Frisch 1992: 174)

Dieser Satz zeugt davon, dass Stiller sogar in Traeumen den Gedanken nicht aufgibt von der Wirklichkeit zu fliehen, ihm aufgezwungene Realitaet loszuwerden und sich selbst ein Fremder zu sein.

 Dieser Flucht von der Wirklichkeit und vor allem vor sich selbst liegt das Gefuehl zugrunde, in allem ein Versager zu sein.

" Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich davon getraeumt: ich moechte schiessen, aber es schiesst nicht- ich brauche dir nicht zu sagen, was das heisst, es ist der typische Traum der Impotenz". (Frisch 1992: 269)

Der Traumdeutungstheorie von Sigmund Freud zufolge lassen sich Traeume mit Hilfe ihrer Symbole verstehen. Die letzten sind mehrdeutig und koennen verschiedene Bedeutungen haben.

Zum Beispiel Traeume, die eine Flucht beinhalten, haben im Gegensatz zu den meisten anderen Traumbildern haeufig ein eindeutig negatives Bild, denn auf der Flucht wird sich kaum jemand wohl fuehlen. Auf der anderen Seite kann dieses Traumbild auch darauf hindeuten, dass man sein Leben zu wenig selbst in die Hand nimmt, seine Kraefte unterschaetzt und nicht zu kaempfen wagt. So unangenehm Fluchttraeume sind, so beinhalten sie doch stets auch einen positiven Aspekt, da Flucht stets auch eine Loesung darstellt.

Der Gegenpol zum Fluchtbild ist das Bild des Kampfes, das in Traeumen in vielen Variationen auftaucht. So kann man davon traeumen, verbal mit jemandem zu kaempfen, also zu streiten, man kann sich in Handgreiflichkeiten verwickelt sehen, oder man kann von Krieg traeumen.

Diese Symbolik ist besonders fuer die Interpraetation des Traums von Stiller wichtig. Normalerweise wird Kampf als ein Konflikt mit sich selbst gedeutet; man hegt einander widersprechende Gefuehle oder Gedanken. Bei der Deutung ist auch wichtig, ob der Kampf gewonnen oder verloren wird. Im ersten Fall koennen durchaus positive Gefuehle geweckt werden, im zweiten Fall- und das ist gerade der von Stiller- ist die Sache frustrierend und kann zum Ausloeser fuer Fluchttraeume werden.

Stiller fuehlt sich als einer, der versagt hat, er will eine Vergangenheit abschuetteln, die fuer ihn voll negativer Erinnerungen ist. Sein Versagen empfindet er in dreifacher Hinsicht: als Kaempfer, als Liebender, als Kuenstler. Als Kaempfer hat er in Spanien versagt, wo er als Freiwilliger am Buergerkrieg teilgenommen hat. Dass er nicht auf die Feinde geschossen hat, obwohl er den Befehl und die Moeglichkeit dazu hatte, kann er sich selber nie verzeihen.

Hier werden zwei Realitaeten miteinander konfrontiert:einerseits ist es die Wirklichkeit, die mit dem Spanienerlebnis verbunden ist:

"Ich hatte einen Auftrag, ich hatte mich sogar darum beworben, ich hatte den Befehl, die Faehre zu bewachen, einen vollkommen klaren Befehl. Was weiter! Es ging nicht um mich, es ging um tausend andere, um eine Sache. Ich hatte zu schiessen. Wozu war ich in Spanien? Es war ein Verrat." (Frisch 1992: 268)

Andererseits ist es die fiktive Realitaet, die der wiederkehrende Traum vom Gewehr, das nicht losgeht, beinhaltet: "ich moechte schiessen, aber es schiesst nicht." (Frisch 1992: 269)

 Von diesem Erlebnis kommt er innerlich nicht los, es wird in ei­ner Gesellschaft erzaehlt, in der er seine spaetere Frau Julika kennen lernt, und ebenso erzaehlt er es spaeter Sibylle, als sie ihn zum ersten Mal in sei­nem Atelier besucht. Waehrend Julika gar nicht versteht, welche Bedeutung dieses Erlebnis fuer ihn hat, macht ihn Sibylle darauf aufmerksam, dass er etwas auf sich genommen habe, was seinem Wesen gar nicht entsprach. "Wer verlangt von dir, dass du ein Kaempfer bist, ein Krieger, einer, der schiessen kann?"

(Frisch 1992: 269), fragt sie ihn. Sie sieht, dass Stiller sich selbst ueberfordert hat, dass er schon damals etwas anderes sein wollte, als er eigentlich war. "Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus uebertriebener Anforderung an sich selbst" (Frisch 1992: 252), so beschreibt der Tagebuchschreiber im Rueckblick den verschollenen Stiller. Die Niederlage in Spanien, als die Stiller dieses Erlebnis immer wieder bezeichnet, ist einer der Hauptgruende fuer seine Minderwertigkeitskomplexe. Natuerlich betreffen diese Komplexe auch den erotischen Bereich, und den immer wiederkehrenden Traum vom Gewehr, das nicht losgeht deutet Stiller selbst als "typische(n) Traum der Impotenz" (Frisch 1992: 269). "Schiessen" ist in diesem Zusammenhang ambivalent- woertlich Bereitschaft jemandem das Leben zu nehmen, metaphorisch Bereitschaft jemandem das Leben zu geben. Das Gewehr ist demzufolge in der Semantisierung durch Stiller woertlich Mordinstrument, metaphorisch Sexualorgan. Stillers Angst bleibt rein psychologisch. Er will "nicht geliebt werden"(Frisch 1992: 269) und hat "eigentlich Angst vor Frauen" (Frisch 1992: 254), doch "immer war da ein Weib " (Frisch 1992: 311). Er kompensiert die Angst und "erobert mehr, als er zu halten vermag" (Frisch 1992: 254).

Zwar ist Stiller nicht impotent, aber es gelingt ihm nicht, eine dauerhafte Bindung zu einer Frau zu finden. Die Ehe mit seiner Frau Julika wird fuer ihn zu einer Probe, an der er scheitert. Seine Schuldgefuehle werden dadurch verstaerkt, dass Julika krank wird und in ein Sana­torium nach Davos gehen muss. Zwar hat er inzwischen in Sibylle eine Frau kennengelernt, deren heitere, offene Art ihm eine weniger problemgeladene Beziehung und Bindung moeglich erscheinen laesst, jedoch ist sein Verhaeltnis zu ihr wiederum durch seine Schuldgefuehle gegenueber Julika belastet, und so wird sein Versagen als Liebender zum weiteren Anlass seiner Flucht nach Amerika.

Der dritte Punkt, in dem er sich als Versager fuehlt, ist sein Beruf, die Bildhauerei; ob zu Recht oder nicht, kann aus dem Text nicht eindeutig erschlossen werden. Mr. White schreibt darueber: "Wie begabt er nun ei­gentlich war, ihr verschollener Stiller, daruber gingen die Meinungen offenbar von Anfang an auseinander, und es gab Leute, die ihn nie fuer einen Kuenstler hielten" (Frisch 1992: 91). Sibylle dagegen ist beim Blaettern in seinem Skizzenbuch "bestuerzt im Gefuehl, sich in einen Meister verliebt zu ha­ben" (Frisch 1992: 263) Stiller selbst jedenfalls glaubt, in der Kunst versagt zu haben, und zerschlaegt ja auch, heimgekehrt, bei einem Lokaltermin alle seine Werke. Allerdings darf man in dieser Handlung nicht nur eine Auseinandersetzung mit seiner Kunst sehen, er versucht vielmehr ein letztes Mal seine Vergangenheit zu zerschlagen, um von ihr frei zu werden.

"Julika scheint erwartet zu haben, mein Gestaendnis liege bereits vor, […]." (Frisch 1992: 366)

"Noch immer mit der warmen Ruhe der Zuversicht versuche ich Julika zu erklaeren, warum sie, so sie mich wirklich liebt, kein Gestaendnis von mir braucht, dass ich ihr verschollener Gatte sei." (Frisch 1992: 367)

"[…], nach einigem Warten, […], erhebe ich mich, spuere ploetzlich sehr schwere Beine, staube meinen Mantel ab, um Zeit fuer irgendeine gluecklichere Wendung zu lassen, gehe endlich zur Tuere, […], die geschlossen ist. Geschlossen." (Frisch 1992: 368)

""Da!"-lache ich vor Wut, die mich im Grunde doch nicht verlassen hat, und reisse so ein Sacktuch ab, ratsch, und wie erwartet: lauter Staub, von keinem Verteitiger zu halten, ein Gebroesel von trockenem Lehm, und das naechste ebenso, Mumien, nichts als Mumien, das ist aber auch alles, was von ihrem verschollenen Stiller sich haelt, der Rest ist Erde, wie der Pfarrer sagt, ein paar graubraune Klumpen auf dem Boden, vor allem aber eine Wolke von braunem Staub, wenn ich die Sacktuecher schuettle." (Frisch 1992: 370)

War das Gefuehl, in dreifacher Hinsicht versagt zu haben, der Grund fuer Stillers Flucht nach Amerika, so lohnt es sich zu fragen, ob es ihm dort gelungen ist, sich ein neues Leben und eine neue Identitaet mit sich selbst aufzubauen. Dem naiven Waerter Knobel gegenueber, der seine Erzaehlungen staunend und glaeubig anhoert, zeichnet er ein Gegenbild: einen erfolgreichen Mann, der sich ohne Hemmungen nimmt, was er haben moechte, und der Glueck bei den Frauen hat. So ermordet er den Haaroel-Gangster Schmitz mit dem Dolch, weil "dem in einem ordentlichen Rechtsstaat nicht beizukommen ist" (Frisch 1992: 25); rettet eine Mulattin aus dem brennenden Saegewerk, erschiesst ihren Mann Joe: "Liebst du mich oder liebst du ihn?[…] Und Schuss. Und kein Wort mehr von Joe" (Frisch 1992: 52).

Die Wirklichkeit seines Amerika-Aufenthaltes hat offenbar anders ausgesehen. Wenn man auch nur wenig ueber Stillers Leben dort erfaehrt, so wird doch deutlich, dass er seine Vergangenheit, insbesondere seine Schuldgefuehle gegenueber seiner Frau, auch hier nicht abschuetteln kann. Sinnbild dieser Bindung an die Vergangenheit ist die Geschichte von der Katze, die leitmotivisch das Tagebuch durchzieht. Wenn wir die Gestalt von "Little Grey" in die Analyse miteinbeziehen, koennen wir feststellen, dass White in diesem Bild symbolisch fuer Stiller steht. Die Beziehung von White zu seiner Katze zeigt Interpetationsmoeglichkeiten bezueglich derselben zu den Beziehungen von Stiller und Julika. Es war in Oakland/ California, und er durfte im Hause wohnen, wenn er dafuer die Katze fuetterte. Wenn sie ihn stoerte, warf er sie hinaus. Doch sie fand wieder ins Haus: "Es wurde ein Kampf um Ausdauer… weil sie um meine Huette jaulte und mich der ganzen Nachberschaft verschrie… Ihr Blick drohte mit sterben…"(Frisch 1992: 62)

Es ist genauso wie bei Julika, durch deren Krankheit er sich an sie gefesselt fuehlt. Auch das Gefuehl der eigenen Minderwertigkeit gegenueber Julika uebertraegt er auf die Katze:"Sie lebte… wenn auch mit der Miene einer Siegerin…" (Frisch 1992: 339)

Die Tatsache, dass Stiller die Katze einmal in dem Eisschrank eingesperrt hat, koennte Julika's Frigiditaet symbolisieren, ueber die sich Stiller im Nachwort bei Rolf beklagt.

Er wird die Katze, die er einmal als "Vorbote(n)" bezeichnet (61) und die er innerlich mit seiner Frau in Beziehung setzt (Frisch 1992: 339), ebenso wenig los wie seine Vergangenheit.

Den letzten verzweifelten Schritt, damit zu brechen, stellt der Selbstmordversuch dar, den Stiller zwei Jahre vor seiner Rueckkehr in die Schweiz unternimmt. Es ist der Versuch, "ein Leben, das nie eines gewesen war" (Frisch 1992: 381), von sich zu werfen. Der Schmerz und der Schrecken, die hinterher einsetzen, zeigen ihm, dass er lebt; er nennt dieses Erlebnis seinen Engel. Nun will er so leben, "dass ein wirklicher Tod zustandekommt" (Frisch 1992: 381), das heisst, dass er mit sich selbst identisch wird. Stiller kann ueber dieses Erlebnis nur in Andeutungen berichten, es "ist nicht verbalisierbar, dabei ist gerade darin seine tiefste Erkenntnis ueber sich selbst begruendet" (Tildy 1967: 23). Das Gefuehl, von diesem Zeitpunkt an ein neues Le­ben begonnen zu haben, "die bestimmte Empfindung, jetzt erst geboren worden zu sein" (Frisch 1992: 381), ist der tiefste und meiner Meinung nach der eigentliche Grund, weswegen der Heimkehrer sich weigert seinen frueheren Namen wieder anzuneh­men. Denn damit geriet er unweigerlich wieder in sein frueheres Leben hinein, ubernaehme eine Rolle, in die er nicht mehr passt. Niemand ist naemlich bereit in ihm einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen, jeder sucht in ihm nur die Zuege des Anatol Stiller, die er von frueher her kennt. Darum heisst es schon auf S. 49: "Ich bin nicht ihr Stiller [...] Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle". (Frisch 1992: 49)

" Es gibt keine Flucht" - dieser Satz taucht immer wieder auf und diese Einsicht ist eine der Grundlagen des Romans ueberhaupt, denn weil Stiller erfahren hat, dass Flucht vor sich selbst nicht nuetzt, um mit sich selbst fertig zu werden, kehrt er in die Schweiz zurueck. Aber mit der Rueckkehr in die Schweiz ist die Flucht vor sich selbst noch nicht aufgehoben, denn der Gefangene weigert sich die Identitaet mit dem Verschollenen zu gestehen.

Max Frisch hat in seinem Roman eine innere, psychische Situation, naemlich die Flucht vor sich selbst als eine aeusserliche Situation dargestellt. Der Roman ist eine Darstellung eines Ich-Zerfalls und zugleich der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung durch Selbstsuche. Gleich mit dem Beginn des Romans faengt diese Selbstsuche an und in dieser Ausseinandersetzung mit sich selbst liegt die psychoanalytische Faerbung des Romans.

"Was Frisch hier darstellt, ist tatsaechlich eine Art Selbstanalyse als Reaktion auf das Scheitern der Flucht vor sich selbst, und diese Selbstanalyse hat sehr viel Aehnlichkeit mit der psychoanalytische Therapie" (Wesstein 1967: 256)


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