2.2 Parabolische Geschichten in "Stiller"
Das Erzaehler-Ich in "Stiller" instrumentalisiert die Fiktion, um u.a. seiner Suche nach dem wahren Ich Ausdruck zu verleihen. Das Eintauchen in die Schichten seines Bewusstseins wird zur Abenteuergeschichte ueber eine Expedition in eine Grotte. Die Geschichte beginnt wie die anderen Knobel erzaehlten Geschichten als Abenteuer in Texas, der Erzaehler schildert sich als Cowboy. Bald jedoch gewinnt die spannende Geschichte von der Erforschung einer Hoehle eine tiefere Dimension: aus dem "unterirdischen Arsenal der Metaphern" (Frisch 1992: 165) wird ein Sinnbild des Unterbewusstseins, in dem der Kampf zwischen Jim und Jim, zwischen dem alten und dem neuen Ich vor sich geht. Das ist ein klarer Hinweis auf die Persoenlichkeitsspaltung des Erzaehlers, als auch auf die Todeserfahrung, die Stiller bei seinem Selbstmordversuch gemacht hat; dies wird noch deutlicher beim Anblick des Skelettes, wenn der Erzaehler sagt: "[…] ich […] musste meinen ganzen Verstand zusammennehmen, um nicht das Skelett, dass da im runden Schein der Lampe lag, schlechterdings fuer mein eigenes zu halten" (Frisch 1992: 162) Der schwierige Aufstieg aus der Hoehle ist ein Symbol fuer die Wiedergeburt des neuen Ich, die Stiller nach seinem Selbstmordversuch erlebt hat. Vergleicht er seine Erfahrung danach mit einem Kindheitserlebnis: "[…] als Buben krochen wir manchmal durch einen Abwasserkanal, das ferne Loch mit Tagesschein erschien viel zu klein, als dass man je herauskommen koennte" (Frisch 1992: 379), so beschreibt er den Ausgang der Hoehle mit aehnlichen Worten: "[…] ich sah ein paar Sterne, ein paar scheinlose Funken in unendlicher Ferne". (Frisch 1992: 160)
Der Preis fuer diese Wiedergeburt ist der Kampf mit seinem 'Alter Ego' und dessen Vernichtung; von ihm heisst es spaeter: "Ich denke, dieser Verschollene wird sich auch nicht mehr melden!" (Frisch 1992: 172)
So bestaetigt die Antwort des Erzaehler-Ichs auf die Frage des Gefaengniswaerters Knobel, ob er die Hauptperson in dieser Geschichte sei, eben dieses Verfahren, Erlebnismuster in Fiktionen auszudruecken: "Nein, [...] das gerade nicht! Aber was ich selber erlebt habe, sehen Sie, das war genau das gleiche - genau." (Frisch 1992: 172).
In aehnlichem Maße tragen die Geschichte von Isidor und das Maerchen von Rip van Winkle die Erfahrung in sich, den Anforderungen einer Rolle nicht gerecht zu werden. Die beiden sind Heimkehrgeschichten, obwohl Jim White die Schweiz zum ersten mal bereist: der Heimkehrer ist naemlich Stiller.
Die erste Geschichte, die das Thema "Heimkehren" anschlaegt ist die von Isidor. White schreibt sie mit der Absicht nieder, sie Julika zu erzaehlen, die aus Paris geholt wird, um mit ihm konfrontiert zu werden. "Eine wahre Geschichte", so betont er ausdruecklich (Frisch 1992: 41); es ist der erste Hinweis darauf, dass die "kleine Schnurre" (edg) in Beziehung zu seiner eigenen Problematik steht. Hier kann man zahlreiche Parallelen zwischen Whites Fiktion und Stillers Realitaet ziehen; erstens durch die Zahl der Ehejahre, denn auch Stiller und Julika waren neun Jahre verheiratet, ehe Stiller-wie Isidor- ploetzlich verschwand. Ironisch heisst es, es sei im Grunde eine glueckliche Ehe gewesen, auch werden beide Frauen als sehr liebenswert bezeichnet. Noch deutlicher wird die Beziehung zwischen dem Fiktiven und Realen, als der Erzaehler berichtet, er habe die Geschichte seiner schoenen Besucherin angepasst, "also unter Weglassung der fuenf Kinder und unter freier Verwendung eines Traumes […] Isidor gibt, sooft er auftaucht, keine Schuesse in die Torte, sondern zeigt nur seine beiden Haende mit Wundmalen" (Frisch 1992: 56). Der Heimkehrer will mit dieser Geschichte sich und seine Motive Julika verstaendlich machen. Julika aber reagiert genauso wie Isidors Frau, indem sie mit fast den gleichen Worten sagt: "Warum hast du nie geschrieben? Wo bist du nur all die Jahre gewesen?" (Frisch 1992: 59) Mit anderen Worten: sie ist nicht bereit in ihm einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen: "Ach, […] du bist noch immer der gleiche" (Frisch 1992: 57)
Eine Ehe- und Heimkehrgeschichte ist auch das Maerchen von Rip van Winkle, das Frisch von Washington Irving uebernommen und fuer seine Zwecke leicht veraendert hat. Der Heimkehrer nennt sich in diesem Maerchen nicht White, sondern Rip van Winkle, wodurch eine parabolische Spiegelung entsteht. Die Ausgangssituation ist in beiden Geschichten aehnlich. Stiller erkennt sich in Rip van Winkle wieder. Wie dieser ist er in den Augen der Gesellschaft ein Versager, waehrend seine Frau, ebenso wie Julika, von allen bedauert und bewundert wird.
Im Grunde ist dieser Rip van Winkle ein "herzensguter Kerl" (Frisch 1992: 72) und ein Fischer, "der nicht um der Fische willen fischte, sondern um zu traeumen"(edg), und aehnelt so Stiller dem "deutschen Traeumer".
" Rip fuehlte es wohl, dass er einen Beruf haben muesste, und liebte es, sich als Jaeger auszugeben"(Frisch 1992: 73), doch auf weibliche Tiere vermag der "Jaeger mit dem Schiessgewehr" (edg) nicht abzudruecken- "stets hatte er mehr erlebt, als geschossen". (edg).
Sehr wichtig fuer das Verstehen Stillers Intention ist der Schluss der Geschichte. Rip van Winkle bleibt bei Frisch ein "Fremdling in fremder Welt" (Frisch 1992: 76), der an seiner Identitaet zweifelt. Auf die Frage, wer er ist, antwortet er: "Gott weiss es, gestern noch meinte ich es zu wissen, aber heute, da ich erwacht bin, wie soll ich es wissen?" (edg). Fast die gleichen Worte gebraucht der Tagebuchschreiber, um seine Situation zu beschreiben: "Weiss ich denn selbst, wer ich bin?" (Frisch 1992: 84) Dies schreibt er, kurz nachdem er dem Verteitiger das Maerchen erzaehlt hat um diesem "aus seinem nachgerade ergreifenden Missverstaendnis meiner Lage […] herauszuhelfen" (Frisch 1992: 70) Waehrend aber der heimkehrende White wider seinen Willen sofort als Stiller identifiziert wird, bleibt van Winkle selbst gegenueber seiner Tochter unbekannt. Rip van Winkle gelingt es praktisch wider Willen, was Stiller mit allen seinen Kraeften vergeblich anstrebt: er kehrt als Unbekannter, als Fremder in sein Dorf zurueck.
Der Tagebuchschreiber erfindet also die Geschichten, um einerseits das Erwuenschte ans Licht zu bringen, um widerliche Wirklichkeit zu ersetzen und andererseits um dem Bildnis, dass seine Umwelt von ihm hat, nicht gerecht zu werden. Er ist auf der Suche nach seiner "Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle." (Frisch 1992: 49)
Mit Traeumen verhalte es sich ebenso, in beiden Faellen spielen vor allem verdraengte Wuensche eine Rolle. Das Erfinden von Geschichten und die durch Traeume ersetzte Wirklichkeit geben dem Tagebuchschreiber eine Moeglichkeit sich selbst zwischen dem Fiktiven und Realem zu finden.
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