1.   Der Begriff der Textwirklichkeit. Fiktionalitaet und Virtualitaet im literarischen Text

 

Unter der fiktionalen Wirklichkeit ist nicht die Nachahmung der objektiven Wirklichkeit zu verstehen, sondern eine besondere Wirklichkeit, die sich im Rahmen eines Textes realisiert und existiert. Die fiktionale Wirklichkeit ist die innere Wirklichkeit eines fiktionalen, das heisst eines literarischen Textes, die in diesem Text und durch diesen Text existiert und ueber eigene Gesetzmaessigkeiten verfuegt.

Die Textwirklichkeit eines Textes stellt in sich keine Ganzheit dar, dementsprechend kann man einen literarischen Text mit einer Konstruktion, die aus vielen "Kaestchen" besteht, vergleichen. Paduceva bezeichnete diese kleinen "Kaestchen" als "Fiktion zweiten Grades", oder "Fiktion in der Fiktion" (Padučeva 1996: 388). In der Struktur eines fiktionalen Textes koennen Fragmente abgesondert werden, die ueber eine besondere Position im Vergleich zur Hauptlinie des Erzaehlens verfuegen. Es handelt sich dabei um autonome Textteile wie Traum, Tagtraum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in der Erzaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das Textganze eingeflochten sind. Einzelne Textpassagen wie Rede, Wechselrede, Landschaftsschilderungen oder Sujetereignisse weisen auf diese fiktionale Wirklichkeit hin, sind also im Rahmen des fiktionalen Systems des Textes verifizierbar.

"Und dann kam die Lava, langsam, aber unaufhaltsam, in der Luft erkaltend und erstarrend, ein schwarzer Brei mit Wirbeln von weisslichem Dampf; nur in der Nacht sah man noch die innere Glut in diesem steinernen Brei, der naeher und naeher kam, haushoch, naeher und naeher: zehn Meter im Tag". (Frisch, M. 1992: 47)

Anders Traeume und Luegen: "Im Fall einer erdachten Welt sind Objekte und Situationen in der erdachten Textwelt Referenten der sprachlichen Aeusserungen" (Paduceva 1996: 244). Diese Fragmente im Rahmen eines fiktionalen Textes sind 'Eigentum' und 'Produkt' des Bewusstseins der Textfiguren und somit im referenziellen System der Textwelt nicht verifizierbar. Sie verfuegen meistens ueber einen besonderen Status und lassen sich durch inhaltliche und sprachliche Signale aus dem Textganzen aussondern.

"Von Julika getraeumt- wieder fast das gleiche: sie sitzt in einem Boulevard-Cafe unter vielen Leuten und versucht, mir zu schreiben, den Bleistift in den Lippen wie ein Schulmaedchen in Not, ich will auf sie zugehen, bin aber von drei fremden (deutschen) Soldaten verhaftet, weiss, dass Julika mich verraten hat. Unsere Blicke treffen sich." (Frisch 1992:333)

Diese Textkonstruktion, naehmlich "Erzaehlung in der Erzaehlung", oder mit anderen Worten "Text im Text", spitzt in erster Linie das Moment des Spieles im Text zu. Gleichzeitig wird die Rolle der Textgrenzen unterstrichen, sowohl der aeusseren, die den Text von dem 'Nicht-Text' trennen, als auch der inneren, die Textteile mit verschiedenen Coden aussondern.

Das Zusammenspiel verschiedener Textschichten kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, weil die Elemente des 'Nicht- Textes' in einer Perspektive in den Text eingeschlossen, in einer anderen aus dem Text ausgeschlossen sind, sondern auch dadurch, dass in beiden Faellen ihr Relativitaetsgrad sich von dem des Haupttextes unterscheidet.

Der Zeichencharakter von allem Kuenstlerischen ist dual schon seiner Natur nach. Einerseits fungiert der Text als eines der Elemente der realen Welt, das sein eigenes Dasein hat. Andererseits aber ist der Text die Kreatur des Autors. Gerade in dieser Dualitaet entsteht "das Zusammenspiel auf dem semantischen Feld 'Wirklichkeit- Fiktion' " (Lotman 1992: 72).

Nach W. P. Rudnev ist die Konstruktion "Text im Text" nicht nur literarische, sondern auch kuenstlerische Erscheinung. Als Beispiel fuehrt der Wissenschaftler die Einfuehrung von Dokumentarbildern in einen Film, oder den mehrschichtigen Sujetaufbau an.

J. M. Levin zum Beispiel untersucht solche literarischen Griffe, wie Vermischung von Traum und Wirklichkeit, Motive der Doppelgaenger, mit deren Hilfe der Autor einen mehrschichtigen Sujetaufbau erzielt. In diesen Konstruktionen bildet das Fabulieren die Oberflaeche und dient der Entstehung des Haupthemas. Das Haupthema basiert vorwiegend auf formellen Elementen- auf den Strukturen wie "Text im Text" mit den gebrochenen Kompositionsrahmen, wo die Grenzen zwischen Realitaeten verzerrt sind. (vgl. Levin 1981: 55-58)

Indem Autor seine Figuren etwas traeumen, erfinden, luegen oder erzaehlen laesst, wird der Prozess des Erfindens selbst expliziert. Lotman (1981) hat diese "Kaestchenkonstruktion" eines Textes mit dem Spiegelmotiv in der Malerei verglichen.

"Fuer die Bezeichnung dieses Textphaenomens scheint der Terminus "virtuell" geeignet zu sein. […] Die Wirklichkeit, die sich im Bewusstsein der Figuren eines literarischen Textes konstituiert, kann als "virtuelle Wirklichkeit" bezeichnet werden". (Čelikova 1998: 224)

Virtuelle Fragmente im Text helfen oft das Verborgene ans Licht zu bringen, das heisst, sie sind Schluessel zur Intention des Autors. 'Das Zusammenspiel der Realitaeten' im Rahmen einer fiktionalen Welt ist einer der verbreitesten Griffe der modernen Literatur. Dieses Zusammenspiel basiert auf den Wechselbeziehungen zwischen der fiktionalen und virtuellen Wirklichkeit. Diese zwei Welten koennen sowohl voneinander abhaengig sein und einander ergaenzen, als auch einander verschlingen. Manchmal dringt das virtuelle Fragment in die Struktur des Erzaehlens ein und ersetzt sie.

Lotman bezeichnete diese "virtuelle Wirklichkeit" als "doppelter Code". In diesem Zusammenhang behauptete er, dass diese Erscheinung dazu fuehrt, dass der Hauptraum des Textes, das heisst seine fiktionale Wirklichkeit, als 'real' empfunden wird. Daraus folgt, dass der Hauptext als 'real' und virtuelle Abschnitte darin als 'fiktional' fungieren. Nachstehend sprechen wir von dem Zusammenspiel der Textrealitaeten, das auf gegenueberstellung "Wirklichkeit- Fiktion" basiert.

Man kann das mit Recht mit der Opposition "Vorhandenes-Moegliches" vergleichen. In dieser Hinsicht ist Rolf Kieser zuzustimmen, der gerade die durch das Tagebuch forcierte "Konfrontation von Dokumentation und reiner Fiktion, der beiden Zeitbegriffe der linearen Chronologie und der diachronischen Vergaengnis, der Oeffentlichkeit und des Individuums, des objektiv erfassbaren Geschehnisses und der subjektiv erlebten Erfahrung, der Ich- und der Er-Position" als Weg sieht, das eigene Wesen [...] in dialektischer Befragung zu ertasten." (Kieser 1978: 126,) Es ist keine Konkurrenz, sondern ein notwendiges sich Ergaenzen. Auch wenn "das Faktum nur geringen Wert [hat], da sich das Ich in ihm nicht angemessen ausdruecken kann," (edg.: 132) so ist der Bericht, das Protokoll u.ae. von Bedeutung, weil die Umwelt des Ich widerspiegelt wird.

Die Analyse von diesen Konzepten gibt uns die Moeglichkeit zur Untersuchung des Aufbaus des Romans vom Standpunkt seiner inneren Realitaeten aus zu uebergehen.



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Раздел: Иностранный язык
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