3.2 Die zeitliche Perspektive
Wie gesagt, kann der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht abschuetteln. Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch entstehen Brechungen, sodass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln und erhellen.
Keine chronologisch erzaehlte Handlung ist im Roman vorhanden, sondern ein kompliziertes Geflecht mehrerer Zeitebenen. Die Vergangenheit wird in Form von Rueckerinnerungen und Berichten in die Gegenwart hereingeholt und mit ihr konfrontiert.
"Ich soll mein Leben erzaehlen, und wenn ich versuche, mich verstaendlich zu machen, sagen sie: Hirngespinste! […]. Mein Verteidiger hoert zu, solange ich von meinem Haus in Oakland rede, von Negern und anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren Geschichte komme […] putzt mein Vertedtiger sich die Fingernaegel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen mit irgendeiner Lappalie: "Sie hatten ein Haus in Oakland?" […] Es war vier Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteitiger notiert, das ist es, was er wissen will!) und eigentlich, ganz genau zu sein, war es eher eine Schindelhuette." (Frisch 1992: 60-61)
In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass die Zeit zum Objekt und zugleich zum Instrument im Zusammenspiel der Realitaeten wird.
Wenn wir die Zeitstruktur des Romans unter die Luppe nehmen, ist auch in erster Linie zwischen dem schweizerischen und amerikanischen/ mexikanischen Text zu unterscheiden. Fuer das, was aus Amerika berichtet wird, ist keine genaue Datierung festzulegen, mit Ausnahme des Selbstmordversuchs, den Stiller vor seiner Rueckkehr unternimmt. White hat also keine Vergangenheit, die sich erzaehlen liesse, er gibt nur einzelne Impressionen wieder, einzelne, nicht chronologisch aufeinander folgende Erinnerungen, die sich meist auf den Aufenthalt in Mexiko beziehen. Diese Mexiko-Erinnerungen sind haeufig im Praesens geschrieben, ein Zeichen fur eine Art Zeitlosigkeit des dortigen Lebens.
Im Unterschied dazu ist fuer den 'schweizerischen Text' eine andere Zeitform, das Praeteritum, charakteristisch.
"Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis inbegriffen und alles, versteht sich, bei Kerzenlicht." (Frisch 1992: 298)
"Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genauso ist es, malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es Augenblicke, wo man sich ploetzlich fuerchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat, auf dem Faeulnis alter Fruechte. Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie noch heute: Bohnen und Erbsen, Nuesse, Fruechte, die ich zum erstenmal sehe. " (Frisch 1992; 29)
Es sind die Impressionen eines rollenlosen, entindividualisierten Ichs,(Lusser- Mertelsmann 1976: 62) das keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt. Diese gewissermassen zeitlose Existenzweise wird auch vom Tagebuch-Ich uebernommen, das entgegen dem ueblichen Gebrauch seine Eintragungen ohne Datum vornimmt. Wir koennen zwar den Fruehherbst 1952 als Datum der Rueckkehr festlegen, erfahren aber nicht genau, wie lange die Untersuchungshaft dauert.
Die Gegenwartsebene- die Monate der Untersuchungshaft, der schweizerische Text - wird nun der durch Rueckwendung hereingeholten Vergangenheitsebene gegenuebergestellt. Das 2. Heft holt dabei zeitlich am weitesten aus, es beginnt mit dem Kennenlernen Stillers und Julikas kurz nach seiner Ruckkehr aus Spanien und erzaehlt von da an die Geschichte ihrer Ehe, jedoch nicht einfach chronologisch, sondern nach einer kurzen Schilderung des Anfangs und der Probleme dieser Ehe springt der Bericht sofort auf das Krisenjahr 1945 (das war vor etwa sieben Jahren - (Frisch 1992: 94). Dieses wird nun von Julikas Standpunkt aus ausfuehrlich geschildert, dazwischen aber heisst es: Hier waere etwas nachzutragen (Frisch 1992: 139), und nun erst erfahren wir Stillers Spanienerlebnis aus dem Jahre 1935. Dies ist - mit Ausnahme einiger Kindheitserlebnisse, die aber nicht in unmittelbarer Beziehung zur Handlung stehen - der frueheste im Roman dargestellte Zeitpunkt. Die Gegenwart macht sich also immer wieder bemerkbar, auch in den Rueckwendungen.
Die beiden anderen der Vergangenheit gewidmeten Hefte - 4 und 6 -haben zwar eine einfachere Zeitstruktur, weil sie fast ausschliesslich vom Jahr 1945 handeln. Aber auch hier ist die Erzaehlung immer wieder durch Einschuebe in der Gegenwart unterbrochen, nicht nur durch die bereits erwaehnten Bemerkungen und Kommentare des Tagebuchschreibers, sondern auch durch Ereignisse und Reflexionen in der Gegenwart. So heisst es im 4. Heft ploetzlich: "Sibylle (die Frau meines Staatsanwalts) hat gestern kurz nach Mitternacht ein beinahe siebenpfundiges Maedchen geboren" (Frisch 1992: 218), oder im 6. Heft: "Manner sind komisch!" findet Sibylle noch heute"" (Frisch 1992: 284), und nach dem Bericht, dass Sibylle sich in Le Havre eingeschifft habe: "Mein Freund, der Staatsanwalt, meldet, dass die Schlussverhandlung (mit Urteilsspruch) auf Dienstag in acht Tagen angesetzt ist " (Frisch 1992: 308). Die Gegenwart bleibt also im Bewusstsein des Lesers immer vorhanden. Karlheinz Braun kommentiert diesen Sachverhalt folgendermassen: "Es ist deutlich, dass in diesen Heften die Vergangenheit dominiert, doch Frisch macht von der Moeglichkeit, die momentane Gegenwart aufleuchten zu lassen, so reichlich Gebrauch, dass sich hier Vergangenheit und Gegenwart eigentuemlich vermischen"(Braun 1959: 78)
Das 7. Heft nimmt sowohl in der Erzaehlhaltung als auch in der zeitlichen Struktur eine Sonderstellung ein. Es enthaelt zunaechst, ebenso wie die anderen Hefte mit ungerader Numerierung, Erlebnisse im Gefaengnis, also in der Gegenwartsebene: Besuch beim Zahnarzt, Gespraech mit dem Staatsanwalt, Gang auf den Friedhof und Besuch von Freunden, gemischt mit Reflexionen und Erinnerungen an Mexiko, die uebrigens wieder im zeitlosen Praesens geschrieben sind. Danach folgt die Rueckwendung auf Stillers Vergangenheit in der Ich-Form, beginnend mit den Worten: "Es ist ja nicht wahr [...]" (Frisch 1992: 334). Schliesslich wird ein ganzer Tag im Gefaengnis protokolliert, eingeleitet durch die Substantive mit zeitlicher Bedeutung: 1. Der Vormittag, 2. Das Mittagessen, 3. Der Nachmittag. Diese Protokolle werden immer ausfuehrlicher, der Bericht vom Nachmittag nimmt 23 Seiten ein (355-378). Hier naehert sich die Erzaehlzeit der erzaehlten Zeit, so wie sich die White-Handlung der Stiller-Handlung naehert und schliesslich mit ihr verschmilzt. Das Protokoll war bisher die Form, in der die Vergangenheit Stillers dem Leser vermittelt wurde. Dass sie hier auf die Gegenwartsebene, den Aufenthalt im Gefangnis, angewandt wird, ist ein Zeichen dafuer, dass der Tagebuchschreiber White Stillers Vergangenheit als die seinige uebernimmt. Das Gefuehl ein neuer, anderer Mensch zu sein, das ihn auch jetzt nicht verlaesst, wird erst jetzt, unmittelbar vor der Urteilsverkuendung, durch den Bericht von seinem Selbstmordversuch und die daraus resultierende Empfindung einer Neugeburt begruendet. "Ich hatte die bestimmte Empfindung erst jetzt geboren worden zu sein, und fuehlte mich mit einer Unbedingtheit, die auch das Laecherliche nicht zu fuerchten hat, bereit, niemand anders zu sein als der Mensch, als der ich eben geboren worden bin, und kein anderes Leben zu suchen als dieses, das ich nicht von mir werfen kann" (Frisch 1992: 381).
Dies ist die einzige Rueckwendung auf den Amerika-Aufenthalt, die zeitlich datiert wird: "Vor etwa zwei Jahren versuchte ich, mir das Leben zu nehmen "(Frisch 1992: 378).
Im Zusammenhang mit dem Gesagten, koennen wir zum Schluss kommen, dass die Zeit im Roman auch als Element des Spieles fungiert. Das kann durch die Tatsache bewiesen werden, dass die Zeitlosigkeit im amerikanischen Text als Zeichen der Irrealitaet des dortigen Lebens fungiert und fuer die Schweiz dagegen detailierte Zeitangaben typisch sind.
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