3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman. Versuch einer vergleichenden Analyse
Das Zusammenspiel der Realitaeten kann aus einer anderen Sicht untersucht werden, die aber von dem Begriff der Mehrschichtigkeit in "Stiller" nicht wegzudenken ist. Das ist die Opposition 'die Schweiz- Amerika', wo Amerika aus Stillers Perspektive fuer die Welt der Flucht steht und die Schweiz der Ort seines Versagens ist.
Bei der kritischen Darstellung der Schweiz muss zwischen der Stillers und der Whites unterschieden werden, das heisst zwischen den kritischen Aeusserungen Stillers vor seiner Flucht nach Amerika, die von anderen Personen berichtet werden, und denen, die der Ich- Erzaehler in der Gegenwart selbst ausspricht.
Im Rahmen der vorliegenden Analyse ist gerade Whites Position gegenueber der Schweiz von Bedeutung, insbesondere in ihrer Opposition zu Amerika, weil sie zu einem Instrument des Zusammenspieles zwischen Fakt und Fiktion wird.
Die Gesellschaftskritik Mr. Whites ist durch die Form bestimmt. Der Ich- Erzaehler tritt als Amerikaner auf, er schildert die Welt, die er sieht, quasi von aussen, als Fremder, wenn er schreibt: " Zuerich koennte ein reizendes Staedchen sein" (Frisch 1992: 77) (und darin liegt schon eine gewisse Kritik), wenn er Zuericher Grossmuenster "eine Art kleine Kathedrale" nennt, so glaubt man zunaechst, White sei wirklich ein Fremder. Allmaehlich aber gewinnt seine Kritik an der Schweiz eine Schaerfe, wie sie ein Fremder wohl nicht aufbraechte. Der Verteitiger nimmt es auch als Beweis dafuer, dass sein Mandant Schweizer und somit der gesuchte Stiller ist.
" Sie wollen mir nur vormachen, dass Sie kein Schweizer sind und somit nicht Stiller", sagt er, " aber Sie werden mir nichts vormachen; ihr Hass gegen die Schweiz beweisst mir noch lange nicht, dass Sie kein Schweizer sind. Im Gegenteil!" ruft er, da ich lache, " gerade damit verraten Sie sich." (Frisch 1992: 196)
Der Tagebuchschreiber betont jedoch, dass seine Kritik eigentlich nicht der Schweiz gelte: " Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die Verlogenheit" (Frisch 1992: 196). Diese Erscheinung ist keinesfalls auf die Schweiz beschraenkt, entzuendet aber stets die Kritik an den Schweizer Verhaeltnissen. Sie scheinen alles zusammenzufassen, was Stiller an der buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt kritiesiert. Das haengt wohl mit der Funktion zusammen, die die Schweiz fuer ihn und seine Identitaetsfindung hat. So meint Jurgensen: " Stillers Gesellschaftskritik ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Selbstanalyse" (Juergensen 1972: 80)
3.1 Die raeumliche Perspektive
Der Schweiz, deren raeumliche und geistige Enge Stiller ein Aergernis ist, wird im Roman ein Gegenbild gegenuebergestellt: Amerika, Sinnbild der Weite, des urspruenglichen, nicht genormten Lebens.
In folgenden Zitaten kommt diese Gegenueberstellung durch die Wortwahl zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz Epitheta wie "klein, angemessen, genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich, bluehend" gewaehlt werden:
"Meine Zelle- ich habe sie eben mit meinem Schuh gemessen, der nicht ganz dreissig Zentimeter hat - ist klein wie alles in diesem Land, sauber, so dass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklommend gerade dadurch, dass alles recht, angemessen und genuegend ist." (Frisch 1992: 15-16)
"Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die Wueste. Beispielsweise die Wueste von Chihuahua. Ich sehe ihre groesse Oede von bluehender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blueht, Farben des gluehenden Mittags, Farben der Daemmerung, Farben der unsaeglichen Nacht." (Frisch 1992: 26)
Stiller versucht dem engen und konventionellen Leben in Europa zu entfliehen und auf dem neuen Kontinent ein freieres Leben zu beginnen. Allerdings soll diese Deutung eingeschraenkt werden: Sie gilt im "Stiller" vor allem fuer Mexiko. Was Stiller fasziniert, ist nicht nur die Weite, die metaphorisch fuer seelische Freiheit steht, sondern auch die Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen in Mexiko dem Leben und Tod gegenueberstehen. Der Erinnerung an den Totentag in Mexiko wird kurz darauf der Besuch auf dem Friedhof in Zuerich am Grabe der Mutter gegenuebergestellt: hier die wortlose Hilfslosichkeit zweier Protestanten gegenueber dem Phaenomen des Todes, dort der selbstverstaendliche Einklang von Leben und Tod.
" Ich muss […] an den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah, an die indianischen Muetter, wie sie auf den Graebern kauern die ganze Nacht, alle in ihren festlichen Trachten, sorgsam gekaemmt wie fuer die Hochzeit, und scheinbar geschieht ueberhaupt nichts, der Friedhof ist eine Terrasse ueber dem schwarzen See[..], ein Friedhof ohne einen einzigen Grabstein oder sonst ein Zeichen […], dazu die Teller mit allerlei Speisen, die mit einem sauberen Tuechlein bedeckt ist, vor allem aber das sonderbare Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt worden ist, ein Gestell aus Bambus, daran das Gebaeck und Blumen, die Fruechte, das bunte Zuckerzeug." (Frisch 1992: 319)
"Das Grab der Mutter: - wie Graeber hierzulande eben sind, mit gestelltem Granit saeuberlich eingefasst, alle etwas zu kurz, so, dass man den Schrecken hat, den Toten auf den Fuessen zu stehen, dazwischen Kieswege, immergruen am Rand, in der Mitte des Grabes eine toenerne Vase, ein paar welke Astern drin, hintern dem Stein eine rosige Blechbueckse, um die Blumen zu begiessen." (Frisch 1992: 324)
Sehr viel kritischer aeussert sich der Tagebuchschreiber ueber New York. Waehrend der Staatsanwalt von der Rainbow- Bar schwaermt, erzaehlt er ihm von der Bowery, einem "Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht, Gefilde der Verlorenen" (Frisch 1992: 176), wo er in einem betrunkenen Greis seinen Stiefvater zu erkennen glaubt. Hier zeigt sich, dass es Stiller nicht um die Gesellschaftskritik geht, sondern dass er ueberall seine persoehnliche Problematik sieht. Dies geht auch vor allem aus der Schilderung seiner ersten Eindruecke nach der Landung hervor, wo es heisst:
" Ich sah die Praerie, die Schlaechtereien von Chikago, die Mormonen, die Indianer, die groesste Kupfergrube der Welt […]." Und doch verfolgt ihn der Gedanke an seine " grazile Balletteuse". (Frisch 1992: 338)
Diese Stelle im Roman zeugt davon, dass der Ankoemmling, der von seinem frueheren Leben flieht, seine Identitaet leugnet, trotzdem seine Vergangenheit mit seiner Gegenwart vergleicht, mit anderen Worten sie nicht loswird.
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